Hike & Fly Mindset: Warum weniger manchmal mehr ist
- Britta Höpflinger
- 17. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Sept.
Die ersten Herbstnebel hängen in den Tälern, die Thermik wird schwächer und unberechenbarer. Für viele Gleitschirmpiloten ist das ein Signal, die Schirme zu verstauen und auf die nächste Saison zu warten. Doch für andere beginnt jetzt die vielleicht schönste Zeit des ganzen Jahres: die Hike & Fly Saison.

Als Sportmentaltrainerin für Paragliding erlebe ich immer wieder, wie diese Übergangszeit eine einzigartige Chance bietet – nicht nur für spektakuläre Bergabenteuer, sondern vor allem für einen wichtigen mentalen Reset. Denn während die großen XC-Flüge pausieren, können wir zu dem zurückfinden, was Gleitschirmfliegen im Kern ausmacht: pure Freude am Fliegen.
Die Kilometerfalle: Wenn Zahlen den Spaß rauben
Seien wir ehrlich: Wie oft hast du schon einen wunderschönen 50-Kilometer-Flug als "nur okay" abgetan, weil jemand anders 150 Kilometer geflogen ist? Wie oft fühlte sich ein perfekter Soaring-Flug im Abendlicht "nicht richtig" an, weil keine XC-Punkte dabei herumkamen?
Du bist nicht allein mit diesem Gefühl.
Unser Gehirn ist evolutionär darauf programmiert, ständig zu vergleichen und nach "mehr" zu streben. In der modernen Paragliding-Welt, geprägt von Online-Flugplattformen, Ranglisten und sozialen Medien, wird dieser Mechanismus ständig befeuert. Das Ergebnis? Viele Gleitschirmpiloten entwickeln unbewusst eine Art "Leistungsabhängigkeit":
Nur weite Streckenflüge fühlen sich wie "echte" Flüge an
Thermikflüge ohne XC-Potential werden mental abgewertet
Der ursprüngliche Spaß am Fliegen wird zur Nebensache
Erfolgsdruck ersetzt die Freude und Einzigartigkeit am Fliegen
Versteh mich nicht falsch: Leistungsorientierung und das Streben nach sportlichen Zielen sind absolut legitim und können unglaublich motivierend sein. Für Wettkampfpiloten sind Kilometer und Punkte wichtige Messgrößen ihrer Entwicklung. Das Problem entsteht erst, wenn diese Zahlen zum ausschließlichen Maßstab werden und andere Aspekte des Fliegens verdrängen.
Auch als Leistungssportler profitierst du davon, regelmäßig zu deinen ursprünglichen Motivationen zurückzukehren. Denn paradoxerweise führt weniger Verkrampfung oft zu besseren Leistungen – gelassenere Piloten treffen klarere Entscheidungen und gehen kalkuliertere Risiken ein.
Zurück zu den Wurzeln: Warum fliegst du wirklich?
Nimm dir einen Moment und erinnere dich: Warum hast du mit dem Gleitschirmfliegen angefangen?
War es für die Kilometer auf der XC-Plattform? Wahrscheinlich nicht.
Die meisten Piloten starten aus anderen Gründen:
Für das unbeschreibliche Gefühl der Freiheit
Für die einzigartige Perspektive auf die Bergwelt
Für Momente der Ruhe und Achtsamkeit
Für das pure Glück, durch die Luft zu gleiten
Für die Verbindung mit der Natur
Diese Motivationen sind nicht weniger wert als sportliche Erfolge – sie sind das Fundament des Fliegens.
Hike & Fly: Der natürliche Reset-Knopf
Die Hike & Fly Saison bietet die perfekte Gelegenheit, zu diesen ursprünglichen Motivationen zurückzufinden.
Aber warum eignet sich gerade Hike and Fly so gut für diesen mentalen Reset?
1. Der Aufstieg als mentale Vorbereitung
Bereits der Anmarsch zum Startplatz unterscheidet Hike & Fly fundamental von klassischen Fluggebieten. Während du normalerweise mit der Bahn oder dem Auto hochfährst und oft schon gestresst am Startplatz ankommst, bietet die Wanderung eine natürliche Entschleunigung.
Mentale Übung für die Wanderung:
Ersten 15 Minuten: Lass alle Gedanken frei fließen. Arbeit, Stress, To-Dos – alles darf da sein. Kämpfe nicht dagegen an.
Mittlerer Teil der Wanderung: Fokussiere dich ausschließlich auf deine Schritte und deine Atmung. Zähle bewusst deine Atemzüge oder synchronisiere sie mit deinen Schritten.
Letzte 15 Minuten vor dem Startplatz: Öffne alle Sinne für die Bergwelt um dich herum. Welche Farben siehst du? Welche Geräusche nimmst du wahr? Wie riecht die Luft?
Das Ergebnis: Du kommst mental "sauber" und fokussiert am Startplatz an – ohne Stress, ohne Druck, nur mit der Vorfreude auf das Fliegen.

2. Neue Definition von Erfolg
Hike & Fly zwingt uns praktisch dazu, unsere Erfolgsdefinition zu überdenken. Wenn du zwei Stunden bergauf gewandert bist, wird jeder Flug – egal wie kurz – zu einem Gewinn.
Neue Erfolgs-Parameter:
Ein 15-Minuten-Soaring-Flug mit perfekter Landung? Erfolg!
Ein ruhiger Gleitflug durch herbstliche Landschaft? Erfolg!
Ein Flug, bei dem du einfach nur glücklich warst? Erfolg!
Diese Perspektive ist befreiend und bringt die Freude zurück ins Fliegen.
3. Achtsamkeit in Aktion
Hike & Fly Flüge sind meist kürzer und ruhiger als große XC-Abenteuer. Das schafft Raum für Achtsamkeit – eine der wertvollsten mentalen Fähigkeiten, die wir entwickeln können.
Achtsamkeitstechnik für Gleitschirmpiloten: Atemrhythmus 1:2
Manchmal reicht es schon, den ganzen Fokus auf den eigenen Atem zu legen, um sofort ruhiger und präsenter zu werden. Diese Übung ist bewusst einfach gehalten und kann sowohl beim Aufstieg als auch beim Fliegen angewendet werden.
So funktioniert's:
Wahrnehmen, was ist
Spüre zunächst nur deinen Atem. Wie atmest du gerade – schnell oder langsam, tief oder flach? Atmest du durch die Nase oder den Mund? Wohin fließt dein Atem – eher in den Brustkorb oder in den Bauch?
Spannungen erkennen
Gehe innerlich deinen Körper durch: Welche Bereiche sind entspannt, welche angespannt? Kannst du beim Einatmen bewusst Atem in diese Bereiche „schicken“ und sie beim Ausatmen lockern?
Rhythmus finden
Wenn du bereit bist, wechsle zu einem entspannenden Atemrhythmus:
Ein Atemzug einatmen, zwei Atemzüge ausatmen. Nicht in Sekunden zählen, sondern in natürlichen Atemschritten.
Aktives Entspannen
Bleib ein paar Minuten in diesem Rhythmus. Spüre, wie dein Körper ruhiger wird, dein Kopf klarer und du automatisch mehr im Moment bist.
Diese Technik hat drei wichtige Effekte:
Du kommst automatisch im Hier und Jetzt an
Sofortige Beruhigung deines Nervensystems
Mehr Präsenz und Klarheit vor und während des Flugs
Mentaltraining für Paraglider: Praktische Tipps für den mentalen Shift
Die "Genuss-Challenge"
Für die nächsten vier Wochen probiere folgendes Experiment:
Vor jedem Flug: Setze dir bewusst KEIN Strecken- oder Leistungsziel
Während des Flugs: Stelle dir regelmäßig die Frage: "Wie glücklich bin ich gerade auf einer Skala von 1-10?"
Nach der Landung: Bewerte den Flug ausschließlich nach deinem Glücksgefühl, nicht nach Kilometern oder Höhenmetern
Du wirst überrascht sein, wie viele "10er-Flüge" du plötzlich hast.
Micro-Adventures statt Mega-Strecken
Definiere bewusst kleine Abenteuer als wertvoll:
Der erste Flug an einem neuen Berg
Ein Flug zu einem Zeitpunkt, zu dem du normalerweise nicht fliegst
Ein Flug mit einem Freund, der Anfänger ist
Das Tagebuch der besonderen Momente
Führe ein kleines Flug-Tagebuch – aber notiere nicht Kilometer und Höhenmeter, sondern:
Welcher Moment war besonders schön?
Was hast du Neues gesehen oder erlebt?
Wie hast du dich gefühlt?
Was war anders als sonst?
Langfristige Vorteile des mentalen Shifts
Dieser bewusste Fokus auf Genuss und Achtsamkeit hat weitreichende positive Effekte:
Mentale Gesundheit: Weniger Stress, mehr Zufriedenheit, bessere Work-Life-Balance
Flugsicherheit: Entspannte Piloten treffen bessere Entscheidungen und gehen weniger Risiken ein
Motivation: Statt Burnout durch Leistungsdruck entwickelst du nachhaltige, intrinsische Motivation
Soziale Aspekte: Du wirst ein angenehmerer Flugpartner und inspirierst andere
Langfristige Entwicklung: Paradoxerweise führt weniger Leistungsdruck oft zu besseren fliegerischen Leistungen.
Fazit: Weniger ist manchmal mehr
Die Hike & Fly Saison lehrt uns eine wichtige Lektion: Wahre mentale Stärke im Gleitschirmsport kommt nicht nur aus Leistung, sondern aus der Fähigkeit, den Moment zu schätzen und bewusst zu erleben.
Während andere ihre Gleitschirme einmotten, hast du die Chance, eine tiefere Verbindung zum Fliegen zu entwickeln. Nutze diese Zeit, um herauszufinden, was Gleitschirmfliegen für dich wirklich bedeutet.
Am Ende zählt nicht, wie weit du geflogen bist, sondern wie sehr du dabei gelebt hast.
Ich wünsche dir auch diesen Herbst viele wunderschöne Stunden in der Luft und
always happy landings
Britta
P.S. Workshop und weitere Ressourcen
Möchtest du deine mentale Stärke gezielt weiterentwickeln? In meinen Workshops 2026 arbeiten wir gemeinsam daran, dass du entspannter, bewusster und letztendlich auch erfolgreicher fliegst.
Kommende Workshop-Termine 2026:
Mental stark in die Flugsaison: März 2026, Werfenweng
Level Up Pustertal: Mai, Juni und August 2025, Sillian
Alle Details und Anmeldung findest du hier: Zu den Workshops 2026
Du möchtest tiefer ins Mentaltraining einsteigen? Diese Artikel unterstützen dich dabei:
Wenn der Bauch Nein sagt: Warum Angst dein wichtigster Berater ist - Lerne, wie du auch beim entspannten Hike & Fly auf deine innere Stimme hörst und die richtigen Entscheidungen triffst
Die Bedeutung positiver Emotionen für Leistung und Genuss im Sport - Warum Freude und Spaß am Fliegen nicht nur schön, sondern auch leistungsfördernd sind
Über die Autorin: Britta Höpflinger ist Sportmentaltrainerin mit Spezialisierung auf Paragliding. Sie unterstützt Piloten dabei, ihre mentale Stärke zu entwickeln und mehr Freude am Fliegen zu finden.
Hat dir dieser Artikel gefallen? Teile ihn gerne mit anderen Piloten, die ebenfalls mehr Genuss beim Fliegen entwickeln möchten.
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